Leseprobe Rindende Begierde
Totensonntag
Das nenne ich einen erholsamen, freien Sonntag: brummender Schädel, ein Sonnenstrahl der sich klammheimlich an der Jalousie vorbei schleicht. Und dann noch das: aufdringliches Gezwitscher lebenshungriger und liebestoller Vögel in einer Lautstärke, die mich nach einer durchzechten Nacht keinen Schlaf finden lässt. Wieder drehte ich mich im Bett, versuchte den Sonnenstrahlen auszuweichen, verbarg meinen Kopf untern dem Kopfkissen, dabei Gefahr laufend zu ersticken. Doch nichts half. Und, als ob all dies nicht schon genug wäre, schaltete sich unvermittelt eine weitere Störquelle hinzu. Wild fluchend drehte ich mich wieder auf den Rücken, fingerte nach meinem ständigen Begleiter, dem Piepser, drückte den Bestätigungsknopf und las den übermittelten Code ab. Wie unsinnig! Denn was außer einem vermeintlichen Tötungsdelikt, sollte mich sonntags morgens um halb fünf aus dem Bett holen? Gequält schälte ich mich aus dem Bett, überlegte ob ich noch schnell unter die Dusche hüpfe und den Schweiß einer durchtanzten Nacht abwasche solle, als es auch schon an der Tür klingelte. Das konnte nur Martin, mein Teamkollege sein. Nur in Shorts bekleidet, stolperte ich zur Tür. Kein Guten Morgen oder so. „Willst du so raus fahren?“ grüßte er spöttelnd, mein spärliches Outfit betrachtend. „Nicht jeder schläft mit Klamotten im Auto“, konterte ich und ging weiterredend in die Küche: „Kaffee oder Red Bull?“ „Carsten, die Jungs vom Schützenverein (uniformierte Kollegen) sind schon vor Ort. Also schmeiß dich in deinen Fummel und lass uns schleunigst starten! Klingt eh nur nach einem Suizid. Kurz gucken und wieder ab ins Bett. Nicht unsere Abteilung“, erwiderte Martin drängelnd. „Ist ja schon gut! Ich spring nur mal kurz ins Bad. Was liegt denn überhaupt an?“ „Toter am Stauwehr in Limmer. Die Kollegen sind sich nicht sicher, ob der da nur volltrunken reingefallen ist, oder ob jemand nachgeholfen hat. Ich nehme mir `nen Red Bull!“ rief Martin mir hinterher. Ich verschwand ins Bad. Als ich zurück kam, stand Martin wartend am Küchentresen und warf mir eine Dose Red Bull zu. „Wo haben sie dich denn raus geklingelt?“ erkundigte ich mich, den Muntermacher runter spülend. „Zum Glück noch nicht aus dem Bett. War gerade auf dem Weg vom MEC in die Tiefgarage, als das Teil hier losging.“ Dabei deutete er auf seinen Bereitschaftspiepser. Klar, wo sollte Martin auch sonst seine Samstagnacht verbringen als im MEC, einer der größeren Diskotheken in Hannover? Schließlich war auch er noch Junggeselle mit seinen zweiunddreißig Jahren, und somit ständig auf der Suche nach einer zu ihm passenden Frau. Was an sich ja kein Problem sein sollte, gut aussehen tat er ja. Nur die meisten Bekanntschaften endeten meist dort, wo zu unpassenden Momenten die Pflicht rief. Von daher unterschied uns, in der ständigen Suche nach einer passenden Weggefährtin, nicht viel. Auch ich bin noch Solo und die Beziehungen, die ich versucht hatte zu führen, endeten eben dort, wo der Dienst zu unmöglichen Zeiten privat Vorgenommenes durchkreuzte. Mit Martins Dienstwagen, einem Opel Omega Kombi, fuhren wir von meiner Wohnung, in Stöcken einem Stadtteil Hannovers, zur Fundstelle. Während der Fahrt hörten wir den Polizeifunk ab. So bekamen wir mit, dass sowohl Dr. Pfeiffer, unser Gerichtsmediziner, als auch die Kollegen von der Spurensicherung schon auf dem Weg waren. „Ich denke am Wehr in Limmer! Was willst du hier in den Herrenhäuser Gärten?“ gab ich leicht irritiert von mir, als Martin den Wagen auf eine kleine Durchgangsstraße lenkte, die durch die Herrenhäuser Gärten, unter dem Westschnellweg hindurch, zum Leineufer führt. „Die Leiche wurde am Wehr hinter dem Wasserkunstmuseum zwischen Ernst-August-Kanal, Leine und Leineabstiegskanal aus dem Wasser gefischt. Also wenn du es so willst, genau zwischen Herrenhausen und Limmer“, belehrte mich Martin. „Ach so“, gab ich leicht abwesend von mir. Was hätte das für ein schöner Tag werden können? Der Juni zeigte sich von seiner schönsten Seite. In der Nacht hatte ein Gewitterguss den ausgedörrten Boden getränkt und die frühen Sonnenstrahlen heizten diesen erneut auf. Leichte Nebelschwaden schwebten nur wenige Meter über den Boden, darüber die klare, sonnige Luft. Untrügerisches Merkmal dafür, dass es wieder ein angenehmer, nicht zu heißer Sommertag wird, ein echter Sonntag halt. Und was trieb ich? Fuhr zu einer Leiche, die wohl zu besoffen war, um sicher den Weg nach Hause zu finden. Einem Unfall! Also nichts für uns. Ich sehnte mich zurück in mein Bett. Ein paar Stunden schlafen und dann ab an die Ricklinger Badeteiche, etwas Sommersonne tanken und schwimmen. Aber was nicht ist kann ja noch werden hoffte ich inständig, dass Martin mit seiner Ferndiagnose, Selbstmord oder Unfall, Recht behalten sollte. Eine nur von Anliegern genutzte Straße führt durch die Herrenhäuser Gärten hindurch und unter der Brücke des Schnellweges entlang, wo sie sich, unmittelbar dahinter, in zwei Richtungen gabelt. Nach links gelangt man zu einigen kleineren Gartenkolonien, die ihren Auslauf in Limmer finden, der andere Weg, den wir befuhren, führt zum Wasserkunstmuseum und an diesem vorbei zum ehemaligen Freibad des Stadtteils Herrenhausen, das heute als „Open Air“ Kulisse dient. Schon vom Weiten war die Vielzahl der mit diesem Einsatz beschäftigten Fahrzeuge zu erkennen. Auf dem kleinen, aus einer Kiesschotteraufschüttung bestehenden Vorplatz des Wasserkunstmuseums standen mehr Fahrzeuge als mir lieb waren. Von Spurensicherung, wenn es dann doch kein Unfall war, hatten die wohl alle noch nichts gehört. Statt auf dem asphaltierten Teil der Anliegerstraße zu bleiben, standen sie alle direkt auf dem Vorplatz des Museums im Schotter: zwei Rüstfahrzeuge der Feuerwehr, drei Streifenwagen der uniformierten Truppe, Rettungswagen und Notarzt. „Tolles Aufgebot!“ machte ich meinem Unmut Luft. „Kann man wohl sagen“, bestätigte Martin. Kopfschüttelnd ging ich auf einen der uniformierten Kollegen zu, zückte zur Legitimation meinen Dienstausweis. „Sanders, Mordkommission und das hier“, dabei deutete ich auf Martin, „mein Kollege, Herr Willers.“ „Guten Morgen, wenn Sie mir bitte folgen würden.“ Was sollten wir denn sonst machen? Hier warten? Wir folgten, über die zwei Brücken des Stauwehrs, rüber auf das andere Leineufer. Von der hinteren Brücke aus hatte ich einen guten Überblick über die sich darbietende Szenerie. Am linken Ufer des rechten Seitenarmes der Leine lag ein nasses Bündel Mensch, vor dem unser Doc hockte. Etwas abseits, ihre Einsatzkoffer wieder zusammenpackend, gruppierte sich der dreiköpfige Rettungsdienst. In gewohnt zertrampelnder Manie stapften fünf uniformierte Kollegen in der Uferböschung, links und rechts des Leichnams umher. Na gut Carsten, nicht ungerecht werden! Wer weiß, ob der überhaupt hier gestorben ist und irgendetwas müssen die Jungs ja machen. Fünf Einsatzkräfte der Feuerwehr standen rauchend auf dem Fußweg, der zwischen dem Seitenarm der Leine und dem Leineverbindungskanal verläuft. Man sah Ihnen an, dass sie nur darauf warteten endlich den Abrückbefehl zu erhalten. „Na, da wollen wir mal“, meinte ich mehr zu mir selbst. „Ich unterhalte mich mal mit den Kollegen, wie ich dich kenne, willst du erst ein paar Takte mit unserem Doc reden“, antwortete Martin und ging schon auf die Kollegen zu, die links und rechts des Leichnams das Ufer absuchten. Ich ging über die Brückenabschnitte des Leinewehrs hinüber auf die Uferseite des Seitenarmes, die zum Stadtteil Limmer hin liegt. Genau zwischen dem Seitenkanal der aufgestauten Leine und dem Leineverbindungskanal verläuft ein Fußweg, zu dessen rechter Seite der Leineverbindungskanal liegt und an dessen linker Seite, die am Wehr aufgestaute Leine sich tosend in die Tiefe stürzt, um dann gemach weiter ihrem natürlichen Flusslauf zu folgen. Langsam schlidderte ich die Abböschung hinunter an das Ufer der Leine, die an dieser Stelle noch eine gute Strömung aufwies. Kaum zu glauben, dass bei dieser Strömung hier ein Gegenstand angespült werden konnte. Dr. Pfeiffer stand oberhalb des Leichnams und diktierte seine ersten Untersuchungsergebnisse in das Diktiergerät. „Morgen Doc“, grüßte ich ihn. „Na Sanders, auch schon aus dem Bett?“ gab er mürrisch von sich. Herr Dr. Pfeiffer gehört schon zum älteren Semester, ist um die fünfzig und wenn er nicht gerade für uns nach Todesursachen suchen muss, referiert er als Privatdozent in der Pathologie der Medizinischen Hochschule in Hannover. Ein echter Profi, mit detektivischem Feingespür. Das zu seinen Vorzügen. „Können Sie schon etwas sagen?“ bohrte ich neugierig. „Ja. Tod!“ erwiderte er, ganz seinem naturell entsprechend. „Das sehe ich auch. Komm Doc, bisschen Futter für uns. Kann ich wieder nach Hause ins Bett? Also Unfall? Oder was anderes!?“ „Tut mir Leid für Sie, Sanders, aber nach Unfall sieht mir hier das nicht aus. Schauen Sie!“ forderte er mich auf. Der Leichnam lag noch auf dem Bauch. Dr. Pfeifer drehte ihn um, schob ein nasses, schwarzes T-Shirt nach oben. „Was meinen Sie was das hier ist?“ erkundigte er sich, ganz nach Dozentenmanier. Ich schaute genauer hin. Der Brustkorb war an zwei Stellen leicht blau unterlaufen. Von der Form her, die die bläulichen Hautverfärbungen sichtbar machten, musste hier mit einem stumpfen, länglichen Gegenstand kräftig zugeschlagen worden sein. „Sie gehaben gewonnen, Doc! Das sieht nicht gerade nach einem Unfall aus. Ist der an den beiden Schlägen gestorben oder gibt es Anzeichen für eine andere Todesursache?“ „Schätze ich mal, muss ich aber noch genauer untersuchen.“ Ich schaute mir den Toten nun genauer an. Vor mir lag ein höchstens zwanzigjähriger junger Mann, knappe eins achtzig groß, schlank, dunkelbraune kurze Haare, weiße Hautfarbe. rdeten etwas an und drehte ihn so zur Seite, damit wir unschwer die eingeschlagene Schädeldecke am Hinterkopf erkennen konnten. „Die Würgemahle am Hals scheinen erst später, also postmortal, hinzugekommen zu sein. Ich vermute man wollte den Toten, mit den Eisengewichten beschwert, hier in der Leine versenken. Todeszeitpunkt müsste so zwischen zwei Uhr dreißig und drei Uhr in der Früh gelegen haben. Genaueres kann ich Ihnen aber erst nach der Obduktion berichten. Wenn Sie mich fragen, wurden die Täter gestört und haben das Weite gesucht. Es müsste demnach einen Zeugen der Tat geben. Den zu ermitteln Sanders, ist Ihre Aufgabe! Nicht wahr werte Kollegin?“ „Danke, Herr Dr. Pfeiffer“, antwortete die Angesprochene wie gefordert. „Wir werden den anonymen Anrufer wohl sehr deutlich auf den Zahn fühlen müssen“, fuhr Bettina fort. „Gut Doc, wenn Sie das Opfer untersuchen, dann überprüfen Sie auch hier bitte, ob er Sexualverkehr im Analbereich ebenso bevorzugte wie unser erstes Opfer“, bekundete ich. „Mann Sanders! Darauf wäre ich diesmal sogar selbst gekommen. Weiteres können Sie heute Mittag in meinem ersten Befund lesen. Ich maile Ihnen den rüber, brauchen also nicht gleich wieder bei mir aufzuschlagen!“ Kopfschüttelnd streifte er sich die Untersuchungs-Handschuhe ab, schnappte sich seinen Koffer und stapfte vor zu seinem Wagen. „Trotzdem noch eine Frage!“ rief ich hinterher. „Woran ist das gestrige Opfer gestorben? „Sanders, ich sagte Ihnen doch schon: Alles weitere heute Nachmittag, sogar schriftlich. Nur eines kann ich Ihnen jetzt schon sagen: Ertrunken ist der nicht.“ Ohne sich auch nur eine weitere Information aus den Rippen leiern zu lassen verschwand er wortlos. „Puuh, dem bist du wohl gestern zu früh fragend auf den Senkel gegangen“, haute Bettina in die gleiche Kerbe des Doc´s. „Bettina sieh zu, dass wir den Anrufer ermitteln!“ versuchte ich von diesem Thema abzulenken. „Mach denen mal was Dampf in der Zentrale! Ich gehe jetzt rüber zu Balthoff und erkundige mich, was die Spurensicherung an brauchbarem Material hat sammeln können“, gab ich mal wieder delegierend von mir und stapfte dienstbeflissen zum Kollegen Balthoff. Jener lehnte entspannt, seine über alles geliebte Pfeife rauchend, an dem VW – Bulli der Spurensicherung. „Und Balthoff, schon was gefunden, was wir für die weitere Ermittlungen von belang sein könnte?“ „Mensch Sanders, wir sind ja schon schnell, aber so schnell nun auch wiederum nicht. Wir haben deutliche Blutspuren hier auf dem Parkplatz in unmittelbarer Nähe zur Uferböschung hin ausfindig gemacht. Können, aber müssen nicht zum Toten gehören. Soll die Gerichtsmedizin klären, habe Pfeiffer entsprechendes Material vom Fundort mitgegeben. Wenn die Fundstelle dann der Tatort ist, so haben wir dort Zigarettenstummel der Marke Davidoff, die eventuell zu einem der Täter führen könnte, sichergestellt. Werden vom Filter genug Material abnehmen können um darüber einen genetischen Fingerabdruck zu entwickeln. Wie Pfeiffer mir sagte, kommt als Tatwaffe ein Baseballschläger in Betracht. Habe deshalb ein paar Taucher angefordert, die das Flussbett hier mal absuchen sollen. Habe zusätzlich Kollegen von der Einsatzhundertschaft geordert, die das Gelände nach der Tatwaffe durchforsten müssen. Reifenspuren haben wir hier ohne Ende, meine Jungs nehmen gerade von allen verwertbaren Spuren Abdrücke. Auf den Eisengewichten, die im übrigen von Form und Gewicht her meist von Marktbudenbetreibern verwandt werden, um Zeltstangen zu beschweren, sind eine Vielzahl von Fingerabdrücken. Die Meisten davon aber überlagert und zudem sehr verwischt, so dass ich schon fast annehmen möchte, die Täter trugen Handschuhe. Da die Eisenoberfläche sehr grob und rau ist könnten wir mit etwas Glück versuchen Abriebpartikel der Handschuhe zu finden. Genaueres kann ich dir aber erst sagen, wenn ich mit dem Zeug im Labor bin. Tut mir leid Carsten, mehr habe ich im Moment nicht“. „Und die Seile?“ erkundigte ich mich. „Ach so, stimmt ja, die haben wir ja auch noch. Geschlagenes Tauwerk, war viel mit Wasser in Berührung, könnten durchaus von einem Boot stammen, schätze eine alte, ausgediente Segelschot. Mit etwas Glück kann ich dir sogar sagen in welchem Wasser die Schot die längste Zeit ihres Lebens verbracht hat.“ „Danke Karl. Das ist zumindest schon mal ein Hinweis darauf, wo unsere Täter ihre Freizeit verbringen. Ein Zeichen dafür, dass sie ihren ersten Fehler gemacht haben.“ Den ersten großen Fehler aber hatten wir schon längst begangen. Das sollte uns in nur wenigen Stunden deutlich vorgeführt werden. „Klar Carsten, den haben die aber nur gemacht, weil sie gestört wurden“, erwiderte Balthoff einschränkend. „Danke Karl. Wann habe ich den Bericht der anderen Untersuchungen, vom gestrigen Tatort?“ „Ich denke, wenn wir mit Hochdruck daran arbeiten, kann ich dir am Abend schon einige Details mehr benennen.“ „Gut, dann schick mir den Bericht auf jeden Fall noch heute, egal wie spät es wird.“ „Mach ich.“ Wo bleibt eigentlich Bettina? Wir haben eine Spur und vielleicht sogar einen Zeugen und genau dort klemmt es gerade. Ich suchte Bettina und wie ich richtig vermutet hatte, saß sie in ihrem Wagen und sprach mit der Zentrale. Ich wartete und versuchte mir die Zeit, auf der warmen Motorhaube des Audi sitzend, mit einer Zigarette zu verkürzen und genoss dabei die ersten frühmorgendlichen, wärmenden Sonnenstrahlen. Bettina stieg aus, setzte sich neben mich und zündete sich ebenfalls eine Zigarette an. Ich betrachtete ihr Profil. Eine wirklich hübsche Frau, einsechsundsiebzig groß und schlank, schöne, vor allem aber auch stramme und wohlgeformte Brüste, die sich unter dem engen, nur knapp bis an den Bauchnabel reichenden T-Shirt abzeichneten. Ihre fast schulterlangen, kastanienbraunen Haare wehten leicht in der frühmorgendlichen Sommerbrise. Wunderschöne schlanke Beine steckten in einer ungemein engen Jeans und ihre fast zart wirkenden Füße verschwanden in weißen Stoffmokassins. Eine wirklich hübsche Frau. Hatte Sie für den Moment meiner Betrachtung rauchend, etwas nachdenklich wirkend, in die Ferne geschaut, drehte sie plötzlich Ihren Kopf und wandte ihren fragenden Blick, mit ihren kastanienbraunen Augen, mir direkt ins Gesicht. „Willst du gar nicht wissen, wer nun der anonyme Anrufer ist?“ erkundigte sie sich. „Doch, na klar“, stottere ich etwas unbeholfen, war ich doch noch damit beschäftigt gewesen Ihr Antlitz auf mich wirken zu lassen. „Komm, lass uns fahren. Herr Bernd Hufnagel, so heißt unser Mr. Anonym, wohnt in Letter, in der Berliner Straße. Mal sehen ob er zu Hause ist“, forderte Bettina mich auf und schwang sich wieder in den Wagen. Die Fahrt nach Letter dauerte nicht allzu lange. Denn trotz des Berufsverkehrs kamen wir über das Schnellwegnetz, das Hannover umspannt, gut voran. Die Uhr zeigte kurz vor acht Uhr morgens, als wir vor dem Achtfamilienhaus in Letter, nach dem Klingelschild eines gewissen Hufnagels suchten. Ein sehr verschlafener Mann, um die dreißig, öffnete die Tür. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er nicht mit dem so schnellen Besuch der Polizei gerechnet hatte. Auch sah er nicht gerade so aus, als ob er, wie die meisten Werktätigen, gleich seiner Arbeit nachgehen wollte. Seine leicht aus dem Leim gegangene, nackte Figur war umhüllt mit einem eiligst übergestreiften babyblauen Morgenmantel. Zerzauste, strähnig braune Haare und verquollene Augen, rundeten sein Erscheinungsbild ab. Irritiert über unser Erscheinen lotste uns Herr Hufnagel direkt durch in das Wohnzimmer, wo er uns aufforderte am Esszimmertisch platz zu nehmen. Mein Blick streifte musternd über die sich mir darbietende Einrichtung. Neben der aus Kiefernholz gefertigten Essgruppe zierte eine beigefarbene Eckcouch mit einem grauen Rauchglastisch mit Chromfußgestell, eine Sideboard, auch aus Kiefernholz, auf dem ein überdimensionierter Fernseher thronte, den Wohnraum. Vor dem Sideboard lag ein Stapel DVD´s, leider ohne Coverbeschriftung. Die Befragung des anonymen Anrufers brachte uns nicht wesentlich weiter. Herr Hufnagel war so gegen drei in der Früh mit seinem Wagen auf den Parkplatz gefahren um Ausschau zu halten, ob er noch jemanden finden könnte, mit dem er seine sexuellen Gelüste hätte befriedigen können. Es war nicht viel los, wie er berichtete. Am oberen Ende des Parkplatzes, zur Straße hin, hätte ein Pärchen im Auto gelegen. Ein weiterer Wagen zog wartend Kreise. Da auf dem Fußgängerweg, zur Brücke hin, ein Motorrad abgestellt war, er aber keine Menschenseele hat sehen können, die zum Motorrad hätte gehören können, sei er kurz ausgestiegen und zur Brücke vorgegangen. Auf dem Scheitelpunkt der Brücke angelangt, habe er dann die Leiche in der gegenüberliegenden Uferböschung liegen sehen. Hals über Kopf sei er zu seinem Wagen gestürzt. Erst wollte er uns nicht verständigen, doch dann, nachdem er noch ein wenig durch die Stadt gefahren sei und so gegen halb fünf zu Hause angekommen war, habe er sich anders entscheiden. Klar war er erstaunt darüber, dass wir, obwohl er seine Rufnummererkennung ausgeschaltet hatte, ihn ermitteln konnten. Nun wusste auch er, dass bei Notrufnummern dies nicht funktioniert. Weitere Fahrzeuge habe er nicht gesehen, auch auf der Wiese nicht. „Herr Hufnagel, warum brauchten Sie fast eine Stunde Bedenkzeit, um sich darüber klar zu werden die Polizei zu verständigen?“ erkundigte ich mich in scharfer, absichtlich zweifelnden Stimmlage. „Herr Sanders, für mich ist das kein alltäglicher Anblick gewesen. Ich dachte, das wären irgendwelche Verrückten, die aus Schwulenhass einen von uns da umgebracht haben. Ich wollte in eine solche Sache nicht mit hineingezogen werden. Doch dann ging mir durch den Kopf, wenn dem wirklich so ist, dann hilft mein Schweigen auch nichts, zumal ich ja, bis auf den Toten, eh nichts gesehen hatte.“ „Sie waren, wie Sie sagten, so gegen halb drei auf dem Parkplatz. Das ist auch so in etwa der Zeitpunkt, wo der Tod bei dem Opfer eintrat. Ist Ihnen wirklich kein Fahrzeug entgegen gekommen, oder sonst irgendetwas aufgefallen?“ bohrte Bettina weiter. „Nein! Das sagte ich Ihnen ja schon!“ erwiderte er für meinen Geschmack etwas zu schnell. „Tut mir leid, wenn ich Ihnen nicht weiterhelfen kann.“ „Ist in Ordnung. Hier haben Sie meine Karte. Falls Ihnen doch noch etwas einfallen sollte, rufen Sie uns bitte an.“ Ich schob ihm meine Visitenkarte über den Esszimmertisch und wollte mich schon zum Gehen erheben, als Bettina sich weiter erkundigte: „Noch eine Frage, Herr Hufnagel. Das Motorrad, das auf dem Fußweg stand, wissen Sie welche Marke, welche Farbe es hatte? Haben Sie sich das Kennzeichen merken können?“ „Eine maisgelbe Honda, Enduro, sehr grobe Stollen. Nummerschild? Nein, habe ich mir nicht angeschaut.“ Na ja, wenigstens etwas, davon gibt es im Großraum Hannover nicht allzu viele, ging es mir spöttisch durch den Kopf. Wir verabschiedeten uns, mit der Gewissheit, dass einer der Kollegen die nächsten Nächte am Parkplatz stehend nach einer maisgelben Enduro, der Marke Honda, Ausschau halten durfte. In Polizeikreisen war der Parkplatz am Pänner–Schuster Weg hinlänglich bekannt. Denn wer mitten in der Nacht noch Lust verspürte, um nach einem anonymen, sexuellen Abenteuer zu suchen, der suchte diesen Ort gerne als Cruising Bereich auf. Leider war es dort auch schon häufiger zu nächtlichen Belästigungen gekommen. Erst vor knapp einem Jahr war ein friedlicher Sexsuchender von ein paar Skins zusammengeschlagen worden. Seitdem ist dieser Platz in den Streifenkurs der Stadtteilwache mit aufgenommen worden. Tagsüber und dies gerade in den Sommermonaten, ist dieser Parkplatz sehr belebt, schließlich liegen in unmittelbarer Nähe die Ricklinger Kiesteiche, ein Badeparadies, das von vielen Hannoveranern gern und ausgiebig genutzt wird. Mächtig hungrig geworden, fuhren wir zurück nach Hannover. Am McDonald´s auf der Hildesheimer Straße genehmigten wir uns einen Kaffee und zwei pappige Burger. Bevor wir wieder ins Präsidium fuhren, schauten wir nochmals kurz am Tatort vorbei. Die Bereitschaftspolizei war inzwischen eingetroffen und hatte bereits die Suche beidseitig des Ufers aufgenommen. Die ersten sonnenhungrigen Badegäste, die versuchten den Parkplatz anzusteuern, zeigten wenig Verständnis dafür, dass wir diesen vorerst noch abgesperrt hielten. Die Presse hatte natürlich Wind von den zwei Tötungsdelikten bekommen, was eine Meldung, die über den Äther kam, bestätigte. Der Nachrichtensprecher von ffn, einem regionalen, privaten Radiosender, teilte mit: „Grausige Leichenfunde am gestrigen und heutigen morgen!“ Er nannte die Fundorte. „Noch stochert die Polizei im Dunkeln. Wie aber unser Reporter vom Sprecher des Pressedienstes der Polizei in Erfahrung bringen konnte, geht man wohl davon aus, dass die Hintergründe, die zu den beiden Morden geführt haben, in der Drogenszene zu suchen sind.“ Vor Wut über diese schnelle Mutmaßung, die ein Trottel von Pressesprecher im Präsidium meinte in die Welt posaunen zu müssen, schlug ich aufs Lenkrad ein. Bettina nahm das gelassener hin, sie schüttelte nur den Kopf und damit war das Thema für sie vorerst abgehakt. Immer noch vor Wut schnaubend, schoss ich in mein Büro. Martin saß an seinem Schreibtisch und kaute an einem Croissant herum. Als ich wie ein Wirbelwind in das Büro stürmte schaute er kurz auf und meinte: „Sag nichts Carsten. Von mir weiß hier keiner was und Stefan lungert noch vor dem Haus der Angehörigen des zweiten Opfers herum.“ Er hatte es an meinem Gesichtsausdruck bemerkt: Ich war in Lynchlaune. „Klasse und wie kommen die darauf? Ich meine, dass wir zwei Leichen haben ist bekannt. Wovon wir derweil ausgehen wohl kaum! Also ich habe kein Interview gegeben,“ sprudelte es immer noch wütend aus mir hervor. „Vielleicht haben die von der Spurensicherung geplappert, keine Ahnung. Solltest vielleicht unseren Pressesprecher selber fragen“, erwiderte Martin gelassen. „Das werde ich auch gleich machen, worauf Du Dich verlassen kannst!“ gab ich kund und wählte auch schon die Nummer. Frau Solms, unsere Neue, hatte Dienst und sie hatte nur aus dem logisch geschlussfolgert, was für sie hinlänglich bekannt war. Ein toter Junkie am Wehr und der heutige Tote an der Brücke ein weiterer Junkie. Demnach nahm sie an, Drogen seien der Hintergrund beider Delikte. Ohne etwas darauf zu erwidern, knallte ich den Hörer auf die Gabel und rief Dr. Pfeiffer an. Warum weiß die Presse schon vor uns, dass der zweite auch Drogenkonsument ist oder war? Doch Dr. Pfeiffer hatte noch gar nichts geäußert, schließlich war er mit seinen Untersuchungen an der zweiten Leiche noch gar nicht so weit. Ich entschuldigte mich für meinen stürmischen Aktionismus. Denn wie konnte ich auch nur ansatzweise annehmen, dass ein so diensterfahrener Fuchs solche Ergebnisse, ohne Rücksprache mit uns, an die Presse weiterleiten würde. „Geht es Dir jetzt besser?“ erkundigte sich Martin, meine Telefonieraktion kommentierend. „Nein! Haste wenigstens Kaffee gekocht oder hier nur herum gelungert?“ ließ ich meiner Verärgerung weiter Luft. Zum Glück arbeiteten Martin und ich schon seit fünf Jahren zusammen, somit hatte er sich daran gewöhnt, dass ich auch mal ganz gerne etwas aus meiner Haut fahre, wenn Dinge nicht so ganz nach meiner Fasson liefen. „Soll ich Dir den Kaffee servieren, oder schaffst Du das noch selber rüber an die Maschine?“ Während er weiter sprach, holte ich mir einen Pott Kaffee und ließ mich wieder auf meinen Stuhl nieder. „Den Kollegen von der Drogenfahndung ist unser Toter vom Wehr bekannt. Sie haben ihn vor zwei Jahren mehrfach aufgegriffen, als der seinen Stoff einkaufen wollte. Soll aber seit gut einem Jahr clean sein, war wohl auf Entzug. Der zweite Tote? Ein völlig unbekanntes Blatt, aber sie hören sich in der Szene mal um.“ „Was von Stefan gehört?“ erkundigte ich mich weiter. „Sagte ich doch eben, der lungert vor dem Haus des Verstorbenen herum. Wir haben dort keinen angetroffen und ich musste los, schließlich hast Du ja die drei Jungs aus dem Heim hierher bestellt.“ Die hatte ich glatt vergessen. „Sind die noch da?“ „Nein, die drei haben Igor als den identifiziert, der der Bekannte von Torsten war und diesen häufiger im Heim abgeholt hatte. Was den dritten aus dem Ford anbelangt, den nur einer von den Dreien kurz gesehen hat, ist namentlich unbekannt. Vorsichtshalber haben wir dessen Profil durch unseren Zeichner erstellen lassen und müsste dir inzwischen per Email übersandt worden sein. Danach habe ich die drei wieder nach Hause geschickt“, schloss Martin seinen Bericht ab. „Na gut, mal abwarten was die Eltern so alles über den neuen Toten zu erzählen haben.“ Die Tür zu unserem Büro ging auf und herein kam Stefan. „Oh, das ging aber schnell. Ich denke du bist noch bei der Familie Malten?“ verlieh ich meiner Verwunderung Ausdruck, ihn schon jetzt hier herein kommen zu sehen. „Wenn jemand zu Hause gewesen wäre, dann wäre dem auch so. Martin und ich haben dort geklingelt, es hat aber keiner aufgemacht. Also bin ich geblieben und habe die Hausbewohner befragt und dabei kam heraus, dass Igor dort alleine wohnt. So weit man weiß, wohnt seine Familie in Garbsen“, erwiderte er, und steuerte dabei zielstrebig die Kaffeemaschine an. „Hätte ja auch einer von Euch vorher im Melderegister überprüfen können, ob der überhaupt noch bei seinen Eltern gewohnt hat. Ich habe mir vor Jahren mal eine Wohnung auf der Legienstraße angesehen. Wenn ich mich da noch richtig entsinne, sind das Häuserblocks mit ziemlich kleinen Wohnungen. Die zwölf müsste, wenn Du vom Engelbosteler Damm kommst, auf der rechten Seite liegen. Stimmt ´s?“ „Stimmt. Wohnhaus mit zwölf Mietparteien, auf vier Etagen“, bestätigte Stefan, mein gutes Erinnerungsvermögen. Aus mir noch unerklärlichen Gründen kroch ein merklich ungutes Gefühl in mir hoch, wusste nicht woher, schaute nachdenklich und besorgt zugleich in den Raum. Martin blickte fragend auf. Er kennt diesen Gesichtsausdruck, der Unbehagen ausstrahlt. „Du hast eine Streife vor das Haus bestellt?“ fragte ich, das Nein schon erwartend. „Nein“, bekundete Stefan etwas betreten, der langsam selber merkte, dass uns hier ein Schnitzer unterlaufen war. „Leute, wir fangen an Fehler zu machen“, kam es etwas zu laut über meine Lippen. „Wir haben bei dem Toten keinen Schlüssel gefunden und das fällt uns erst jetzt auf! Sagt mal pennen wir alle! Oder was?“ schnaubte ich wütend über meine eigene Dummheit. Martin streifte sich schon sein Schulterhalfter wieder über, das bisher über seinen Stuhl gehangen hatte und stand mit dem Kommentar auf. „Dann wollen wir mal hoffen, dass wir schneller sind.“ „Kann mir bitte einer verraten, was mit euch los ist?“ wollte Stefan wissen, der unsere Eile nicht ganz nachvollziehen konnte. „Mensch Stefan! Ich gehe inzwischen davon aus, dass Täter und Opfer sich kannten. Aus irgendeinem Grund ist es zwischen den Tätern und den beiden Opfern zu Streitigkeiten gekommen, die in einer handfesten Auseinandersetzung endeten. Unsere Opfer müssen etwas wissen oder etwas in ihrem Besitz haben, was den Tätern gefährlich werden könnte. Leute! Die Täter haben etwas gesucht, nach etwas gefragt aber keine Antwort erhalten, also ist nicht auszuschließen, dass die auch wissen, wo Ihre Opfer wohnen. Oder? Und dann der fehlende Hausschlüssel bei dem zweiten Toten. Das hätte uns schon am Tatort stutzig machen müssen. Folglich: Was liegt näher, als dass die vermeintlichen Täter nun in den Wohnungen der Opfer nach dem suchen, was diese ihnen nicht freiwillig preisgegeben haben?“ Die letzten Worte sprach ich schon unter dem Türrahmen, Martin folgend, der schon eiligst runter zum Wagen lief. Es erschien uns diesmal mehr als nur angebracht, den Magnetfuß des Blaulichtes auf das Wagendach zu knallen und mit Marschmusik und Blaulicht die Strecke vom Revier bis zur Legienstraße zurück zu legen. Wie Recht ich mit meiner Vermutung hatte, sollte sich alsbald nur allzu eindrucksvoll bestätigen. Nachdem wir uns bei einem der Hausbewohner klingelnd Eintritt verschafft hatten, rannten wir in die zweite Etage und standen vor einer offen stehenden Wohnungstür. Nein, nicht aufgebrochen. Aufgeschlossen! Die weißen Handschuhe überstreifend, um ja keine unnötig falschen Fingerabdrücke zu hinterlassen, gingen wir in die Wohnung. Martin sogar mit gezogener Waffe, wohl in der Annahme, dass wir einen der Herren noch antreffen würden. Was ich für sehr unwahrscheinlich hielt. Schließlich hatten wir uns ja mit dem Martinshorn auffallend genug genähert, was wohl ein weiterer Fehler war. Nein, es war keiner mehr da. Dafür bot sich ein zerstörerisches Bild der Verwüstung.
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