Leseprobe (5) aus
Hättest Du doch besser geschweigen
(Seite 195 – 206)
Es kam keiner mehr dazu diese Frage zu beantworten. Ein Schuß hallte, vom
Nebenzimmer ausgehend, durchs ganze Haus. Fassungslos stand ich am Fernster,
unfähig mich zu bewegen. Träumte ich das jetzt nur, oder war das tatsächlich ein
Schuß? Sven und Sascha sprangen auf und verließen das Zimmer. Ich träumte nicht,
es war ein Schuß, direkt aus dem Nebenzimmer, dem Arbeitszimmer meines Vaters.
Ich kann nicht sagen, warum ich stehen blieb und weiter aus dem Fenster schaute,
wo es doch klar war, daß Vater derjenige war, der geschossen hatte, und er hatte
garantiert nicht auf Spatzen oder Tontauben geschossen. Nur langsam, mit einer
Seelenruhe, bei der ich nicht weiß woher diese kam, löste ich mich vom Fenster
und ging aus dem Zimmer meines Bruders. Ein weiterer Schuß, der laut durch den
Korridor des Obergeschosses hallte, ließ mich ein weiteres mal erschauern.
Vorbei war es mit meiner Seelenruhe, ich stürzte aus dem Zimmer, rannte um die
Ecke des Flurs herum, in das angrenzende Arbeitszimmer meines Vaters. Das Bild,
das sich dort mir bot, läßt mich auch heute noch erschauern.
Fassungslos stand ich im Türrahmen des Arbeitszimmers und schaute auf die sich
mir darbietende Szenerie. Mein Vater saß, nein hing, in seinem geliebten
ledernen Arbeitssessel, hinterm Schreibtisch. Blut lief ihm aus Mund, Ohren und
Nase, die Augen starrten leer in eine imaginäre Ecke des Raumes. Links vom
Schreibtisch hockte Sven, sich gegen die massive Seitenwand des Schreibtisch
lehnend, die Dienstwaffe meines Vaters in der rechten Hand. Quer über ihn lag
bäuchlings Sascha, mit dem Gesicht zu Boden. Aus einer großen Rückenwunde lief
unaufhörlich Blut und durchtränkte nicht nur sein schwarzes Hemd, sondern auch
den beigfarbenen Teppichboden des Arbeitszimmers. Sven starrte mich mit weit
aufgerissenen, angsterfüllten Augen an, sein Mund ging auf und zu, ohne daß
jedoch auch nur ein Ton zu vernehmen war.
Sascha und Vater tot. Das traf mich wie ein Hammerschlag. Hin und her gerissen
zwischen mich schluchzend auf ihn werfen und fliehen, schwankte ich im
Türrahmen. Bis ich endlich, wie von Geisterhand geführt, mich umdrehte, und
wortlos die Treppe hinunter ging, die Haustür offen lassend das Haus verließ.
Wie einer, der in einem schlechten Film sitzt und die dort sich abspielenden
Szenen nicht mehr mit ansehen wollte, so verhielt ich mich, außenstehend, nicht
dabei sein wollend, mir eine schützende Distanz schaffend, Flucht. Ich wollte
weinen und konnte es nicht. Ich ging runter zum Kanal, hockte mich in die
Uferböschung und starrte mit leerem Blick in das trübe, langsam an mir vorbei
fließende Wasser. Von Ferne her
hörte ich, wie sich die Geräusche von Martinshörnern näherten und in der Nähe
stehen blieben. Ich weiß nicht wie lange ich da hockte. Zumindest vernahm ich
noch, daß die Martinshörner, die vorher nähergekommen waren, nun erst laut, da
in der Nähe eingeschaltet, sich wieder entfernten, bis sie ganz verhallten. Ich
war absolut nicht fähig umzusetzen, daß ich das liebste verloren hatte, nicht
meinen Vater, sondern Sascha. Diese Erkenntnis versetzte mir solche Stiche im
Herzen, daß ich kaum mehr atmen konnte und erst als ich mich vor Schmerzen im
Rasen der Uferböschung hin und her warf, den Rasen, der für all das nichts
konnte, wild mit meinen Fäusten bearbeitete, konnte ich nicht akzeptierende
Gefühle heraus lassen.
Warum Sven? Warum hast Du Sascha erschossen? War es mal wieder nur ein Unfall?
Vater, warum hast Du Dich aus dem Leben geschlichen, ohne mir die Fragen zu
beantworten, die ich Dir zu gerne noch gestellt hätte? Warum?
Irgendwann bin ich endlich aufgestanden, es war schon längst dunkel geworden,
und ich stolperte den Kanal entlang, bis ich in der Höhe war, von wo aus es nur
wenige Meter zu Saschas und meiner Wohnung waren.
Ich betrat die Wohnung, holte das Bild, das wir von uns hatten machen
lassen, aus dem Schlafzimmer, schmiß mich auf mein Bett und starrte reglos an
die Decke. Im Laufe der Nacht holte ich mir die Pfeife, rauchte drei Köpfe und
schlief endlich im Wohnzimmer ein. Irgendwie war es mir so, als ob in der Nacht
mehrfach das Telefon geklingelt hätte, doch wer sollte uns, nein mich, schon
anrufen?
Am Morgen nahm ich einen kleinen Rucksack und verstaute ein paar Sachen, ich
konnte nicht in der Wohnung bleiben, brauchte Abstand, überlegte, ob ich nicht
einfach nach Urft fahren sollte, brauchte jemanden, bei dem ich mich hätte
ausheulen, ja anlehnen können. Dann rief ich Martina an, doch die war mit zwei
Freundinnen bereits in die Ferien gefahren, die hatten ja bereits begonnen.
Blöde Kuh, hat doch gar nichts davon erzählt gehabt, daß sie so früh schon
verreisen wollte.
Also schnappte ich meinen Rucksack und irrte los, Richtung Bahnhof. Am Raschplatz setzte ich mich auf die Bank, auf der Sascha und ich uns kennen gelernt hatten, wollte auf meine Art von ihm Abschied nehmen.
Ich kann heute kaum mehr sagen was mich getrieben hat. Statt jedenfalls zum
Bahnhof zu gehen und den Zug nach Köln und dann weiter nach Urft zu nehmen, ging
ich ins „lef“, die Stricherkneipe, trank zwei Wodka-Lemon und
schaute, mich selbst bemitleidend, umher. Was soll ich viele Worte machen, viel
darum herum reden? Ja ich ließ mich anquatschen, machte eine kurze Nummer mit
einem Freier.
Ich war nach dem zweiten Wodka in den Darkroom gegangen, suchte nach
Zerstreuung. Ließ mich von jemanden,
der alles andere als gut aussah, anquatschen. Schnell wurde der Preis für eine
kurze Nummer, dem anderen einen Blasen,
auf der Klappe ausgehandelt. Und was war das für ein Freier?! Der
Knochen, war gut siebzig Jahre alt, stand mit zerschlissener, durchgewetzter
Cordhose im Darkroom. Trotz des nur fahlen Lichtes, konnte man ihn gut
mustern. Ungepflegte, lange, ergraute Strähnen versuchten seine Glatze zu
verdecken. Zu der Cordhose trug er ein altes Baumwollhemd, mit speckigem Kragen.
Unter anderen Umständen hätte ich mich mit so etwas nie abgegeben. Ich
ging mit ihm auf die angrenzende Klappe, zwei Toilettenkabinen, die mit
Schwarzlicht erleuchtet waren. Dort öffnete er seinen Hosenstall und forderte
mich auf, in dem er meinen Kopf runter an seinen Hosenstall drückte, ihm einen
zu blasen. Zum Glück funktionierte meine Nase noch, auch wenn mein Verstand
ansonsten wohl abgeschaltet war. Bei dem ekelhaften Geruch, der mir hier
entgegen schlug, alter abgestandener Urin, wer weiß, wann der sich das letzte
mal gewaschen oder gar die Unterhose gewechselt hatte, wurde ich auf einen
Schlag wieder Herr meiner Sinne, erhob mich und verließ fluchtartig, den alten
mit geöffnetem Hosenstall stehen lassend, das Klo. Erst wollte ich schon ganz
raus, doch dann mußte ich mich übergeben und wechselte auf das daneben liegende,
freie Klo und kotze was das Zeug hielt. Danach fühlte ich mich noch ekelhafter
als je zuvor. Die Hoffnung vielleicht über eine kurze Nummer mich in eine
bessere Stimmung zu versetzten, war somit gänzlich in die Hose gegangen.
Wieder setzte ich mich auf eines der rosanen Plüschsofa in einer der vielen
Ecken dieser Absteige, unschlüssig was ich mit mir anfangen sollte. Ein
dunkelhaariger, etwa zwanzigjähriger Junge kam auf mich zu und erkundigte sich,
ob er sich mit dazu setzen könne. Klar! Etwas Abwechslung kann ja nicht schaden.
Wie sich im Gespräch herausstellte, hieß er Mirco, verkehrt schon seit gut vier
Jahren auf dem Strich, hat so seine Stammfreier.
Nur Mirco war nicht nur Stricher, sondern auch Seelentröster.
„Du hängst da, als ob Du und Vater und Mutter erschlagen hättest.“ kommentierte
er meinen miesen Gesichtsausdruck.
„Hab ich auch.“ Erwiderte ich.
Mirco empfand meine Antwort als einen nicht schlechten Witz, weshalb er
unverholens auflachte.
„Komm nimm das mal, dann geht es Dir gleich besser! Ich spendiere Dir ein
Näschen.“ forderte er mich auf.
Und eh ich mich versah, holte er aus seinem Portemonnaie einen Streifen
Alufolie, entwickelte diese und hervor kam ein weißes Pülverchen, das er schnell
in Form von zwei schlanken, dünnen Streifen auf den Tisch verteilte. Einen
dieser Streifen sog er durch die Nase auf, den zweiten forderte er mich auf,
über den zu einem Röhrchen gerollten zehn Markschein, einzuatmen. Ja, eine
Stimmungsaufhellung konnte ich gebrauchen und eh ich mich versah, sog ich den
Streifen inhalierend auf. Und wie das knallte. Zuerst dachte ich, mir würde der
Schädel weg platzen, doch das Gefühl lies zum Glück schnell nach, was blieb war
ein erhöhter Puls und ein plötzlich einsetzender immenser Tatendrang und so eine
Art Laberflash, ich mußte reden. Keine Ahnung was ich alles erzählte, jedenfalls
quatschte ich und Mirco amüsierte sich königlich über das, was ich das so von
mir gab. Gegen Abend mußte er weg.
Obwohl der eine Freier mir fast den Rest gegeben hatte und ich schon drauf und
dran war auf gar keinen Fall eine weitere Nummer zu machen, blieb ich zurück und
machte doch noch zwei. Nur diesmal
schaute ich mir die, auf die ich mich einließ genauer an.
Die Nacht war schon längst herein gebrochen, als ich endlich den Laden verließ.
Anfangs überlegte ich doch einfach wieder in unsere, jetzt nur noch meine,
Wohnung zu gehen. Doch dann entschloß ich mich, wenigstens noch diese Nacht
etwas Abstand gewinnen zu wollen und ging rüber in die Pension, in der Sascha
mich und ich ihn unverhofft getroffen hatte. Die alte Frau saß wieder an der
Rezeption, wir einigten uns schnell, dass sie für eine Nacht fünfzig Mark von
mir erhielt.
Eine unsägliche Unruhe und ein immenser Durst, wohl eine Nebenwirkung des
Pulvers, ließen mich nicht einschlafen. Naßgeschwitzt durch die Schwüle im Raum
und wohl auch durch den Drogenkonsum, wälzte ich mich im Bett hin und her. Was
blieb mir anderes übrig, als wieder aufzustehen. Ich schlenderte rüber in den
nächtlichen Bahnhof. Einige Penner liefen noch umher, auf der Suche nach einem
Spender, der ihnen einen Ausgab oder die eine oder andere Mark in die
aufgeschlitzte, als Spardose und Sammelbecher verwendete Bierdose warf. Einig
Mitarbeiter der Bahnsicherungsgesellschaft zogen ihre, alles kontrollierenden,
Kreise. In solch früher Stunde kamen kaum mehr Züge an oder fuhren welche ab. Im
Untergeschoss des Bahnhofes in der Passarelle hatte noch ein Pizzastand auf,
dort trank ich zwei Dosen Bier, wurde aber immer noch nicht müde. Also ging ich
wieder ins „lef“. Es muß so gegen vier Uhr morgens gewesen sein. Bis auf zwei
Stricher, einem völlig abgefüllten Freier, der an der Bar hängend auf sein Taxi
wartete, war nichts mehr los. Zum Glück hatte einer der beiden Stricher noch was
dabei, so daß ich mir noch zwei Gramm Peace besorgen konnte. Ich verließ den
Schuppen wieder und setzte mich auf meine Bank am Raschplatz, wo ich erst eine
und dann noch eine weitere Tüte rauchte. Über irgend etwas nachdenken konnte ich
schon nicht mehr, nicht weil ich zu platt war. Nein! Mein Kopf ließ einfach
keine geordneten Gedanken mehr zu. Die beiden Tüten hatten
zumindest eines bewirkt, die Unruhe wurde etwas gedämmt und ich verspürte
endlich so etwas wie aufkommende Müdigkeit.
Die Morgensonne, in ihrem unwahrscheinlich schönen, warmen Rot war schon längst
aufgegangen und ließ die Innenstadt in einem rötlichen Schimmer erstrahlen.
Trotz dieses faszinierenden Anblickes, ging ich rüber in die Pension und von dem
erwachenden Gepiepse der Vögel, die einen neuen, schönen Tag freudig begrüßten,
schlief ich ein.
Am anderen Morgen, es war wohl eher schon Mittag, hatte ich meine Depriphase,
weinte um den Verlust von Vater und Sascha, spielte mit dem Gedanken auch mich
aus dem Leben zu schleichen. Doch dafür war ich zum Glück viel zu feige. Ja, ich
konnte sogar um meinen nun toten Vater weinen. Doch diesen Zustand hielt ich für
unerträglich, weshalb ich wieder
rüber ins „lef“ ging, wollte mich ablenken.
Mirco war nicht da, dafür ein anderer Typ, der mitbekommen hatte, daß ich
gestern etwas von Mircos Zeug gesnieft hatte. Kurzer Hand, einen neuen Kunden
riechend, wurde ich von ihm angesprochen, ob ich vielleicht wieder etwas
bräuchte. Ja, man ist hier wirklich besorgt um das Wohlergehen der einzelnen
Konsumenten.
Holger, so hieß der Typ, war wenigstens so fair, daß er mich darüber aufklärte,
was ich gestern so gesnieft hatte, Speed, eine Partydroge, gehört zur großen
Familie der Amphetamine. Seine Rauschwirkung beschränkt sich darauf
antriebssteigernd, appetitzügelnd und müdigkeitsunterdrückend zu wirken, eine
echte Schlankmacher - Droge. So wie Holger weiter ausführte, würde bei Genuß das
eigene Selbstwertgefühl gesteigert, man meint man sei wer, könne plötzlich
Dinge, die man sonst nicht könne. Na ja und eine nette Begleiterscheinung, ein
echter Redeflasch, man kann quasseln wie nie zuvor. Egal, trotz der netten
Aufklärung, erkundigte ich mich.
„Hast Du etwas, was mich auf bessere Gedanken bringt, aber nicht gleich als
Nebenwirkung diese Unruhe, Redeflash
und Schlaf-losigkeit auslöst?“
„Klar! Komm kurz mit, können das nicht hier drin machen. Der Wirt sieht das
nicht so gerne. Das kann hier zu Hausverbot führen. Komm mir einfach nach.“
Bekundete Holger und verließ das „lef“. Ich folgte ihm bis hin auf dem
hinter diesem Häuserblock liegenden Spielplatz, wo wir es uns auf einer
rückwärtigen, von Sträuchern gut verdeckten Bank, bequem machten.
Holger war höchstens siebzehn Jahre alt, wirkte recht dünn in seiner zu weiten
Jeans und dem blassen Baumwollhemd. Wie er mir erzählte, war er vor zwei Jahren
von zu Hause getürmt und nun ein Fall des hiesigen Jugendamtes. Er hatte schon
alle Heimein-richtungen, der näheren Umgebung durch, konnte sich nirgends wohl
fühlen, als auf der Straße. Zur Zeit wohnt er bei einem Freier. Mit Drogen macht
er seit seinem vierzehnten Lebensjahr herum. Bis auf Heroin hat er alles durch.
„Also was Mirco Dir gestern angedreht hat ist Speed. Echt gut das Zeug, wenn Du
auf ´ne Techno-Fete willst. Aber nur um
besser drauf zu kommen, dabei aber noch alles klar im Kopf zu haben,
glaub mir, Alter, dafür völlig ungeeignet. Versuchs da besser mit Koka, kannst
Du auch sniefen. Das Zeug hebt auch Deine Stimmung und Du kannst, worüber sich
manche Freier am meisten freuen, poppen wie nie zuvor.“ erklärte er mit einem
verschmitzten Lächeln im Gesicht..
„Und? Hast Du was dabei?“ erkundigte ich mich.
„Hast Du Kohle? Oder sehe ich etwa aus wie das Sozialamt?“
„Was kriegst ´e?“
„Zwanzig Mark ein Näschen.“ Nannte er den Preis.
Der Deal war perfekt, noch auf der Bank zog ich das Näschen, froh darüber,
hiermit quälende Gedanken verscheuchen und wieder in einen Tatendrang verfallen
zu können. Kaum hatte ich Holger die zwanzig Mark gegeben haute er auch schon
ab. Danach habe ich ihn nicht mehr wieder gesehen.
Ich muß mich um die Beerdigung meines Vaters und vor allem um die Beerdigung
Saschas kümmern. Sascha. Herzstechen, Herz-schmerzen, doch was getan werden muß,
muß getan werden. Ich muß Saschas Mutter ausfindig machen, ihr mitteilen, daß
ihr Sohn nicht mehr ist. Ob die das überhaupt interessiert? Keine Ahnung, werde
ich ja herausfinden. Also begab ich mich zur Post, wird ja nicht so schwer sein
drei oder vier Familien mit dem Namen Neumann anzurufen und sich zu erkundigen,
ob die einen Sohn haben, der Sascha heißt. Warum hat mir eigentlich Sascha nie
erzählt, wo seine Mutter wohnt? Wie ich da so Richtung Post laufe, fällt mir
noch was anderes ein. Saschas Mutter hat wieder geheiratet, die kann jetzt
unmöglich noch Neumann heißen. „Scheiße!“, fluche ich in mich hinein. War ich
die ganze Zeit so sehr mit mir selbst beschäftigt, daß ich mich nie danach
so richtig erkundigt habe? Ich muß nach Hause, irgendwo muß Sascha ja
Notizen haben, einen Zettel, wer im Notfall zu verständigen ist. Also ab in die
Bahn, zwei Stationen fahren und weiter nach Hause latschen. Juchuh!!
Ich hatte was zu tun.
Wie ich die Wohnungstür aufschließen wollte, kam mir da etwa spanisch vor. Ich
hätte schwören können, daß ich die Wohnungstür abgeschlossen hatte, sie war nur
noch zugezogen. Ein prüfender Rundgang durch alle Zimmer bestätigte, hier war
jemand. Schon glaubte ich, es wäre Sascha gewesen. Hoffte, daß das, was sich
gestern oder vorgestern, keine Ahnung welchen Tag wir überhaupt haben, ereignet
hat, vielleicht nur ein schlechter Traum, eine Sinnestäuschung war. Welch
vergebliche Hoffnung, der Verstand sagte was anderes, daß das was geschehen war,
keiner Täuschung unterlag. Im Wohnzimmer stehend sah ich mein heruntergeklapptes
Bett. Sascha würde nicht in meinem
Bett schlafen. Die Laken waren zerwühlt. Hier hat jemand geschlafen und nicht
nur das, es hat auch jemand unsere beiden Schreibtische durchwühlt. Ob mein
Bruder hier in der Wohnung war? Nur, der hat doch gar keinen Schlüssel und woher
will der wissen wo wir, nein jetzt ja
nur noch ich, wohne? Nichts wie weg hier! Vielleicht lege ich mich
nachher mal auf die Lauer um zu sehen, wer es sich hier meint gemütlich zu
machen.
Nach dieser Aktion, die mich keinen Schritt weiter gebracht hatte, kam wieder
das Gefühl einer inneren Leere auf, fand alles sinnlos, was ich so trieb. Sascha
ist tot, ob ich nun an der Beerdigung teilnehme oder
nicht, hat eh nichts zu sagen, verleiht keinen Ausdruck darüber, ob ich
ihn geliebt oder nicht geliebt habe. Verzeih Sascha, ich hätte wirklich gerne
mehr für Dich unternommen, doch Du hast zu wenig über Dich erzählt und ich viel
zu wenig gefragt. Hätte ja auch keiner ahnen können, daß so etwas mal passiert,
daß Dein so junges Leben schon so früh ausgelöscht wird. Anja! Klar, Saschas Ex
– Erzieherin. Doch um an die heranzukommen muß ich den Heimfeld anrufen. Ne,
dazu habe ich nun gar keine Lust. Klasse, wie Du Dich hier im Kreis drehst. Ach
Scheiße, weg, einfach weg, hat alles eh keinen Sinn mehr.
Und so tat ich es dann auch. Die Tage vergingen, gefüllt waren diese mit Näschen
ziehen am liebsten Koka, wenn es nicht anders ging auch mal Speed, um runter zu
kommen ein paar Tüten rauchen. Inzwischen war ich Dauernächtigungsgast in der
Pension Dorn. Die Alte versuchte zwar immer wieder herauszufinden woher ich kam,
aber ich hielt dicht, keine Lust mit der ein Gespräch anzufangen, soll sich doch
um sich und ihre kaputten Zähne kümmern.
Das ganze wollte auch finanziert werden. Kein Problem, noch war ich
Frischfleisch, noch sah ich nicht ausgemergelt genug aus, vom fortwährenden
Drogenkonsum, schlechter Ernährung. So schaffte ich mindestens drei Freier pro
Tag. Die meisten bevorzugten es kurz auf der Klappe sich eine Blasen zu lassen,
manche wollten hoch aufs Zimmer, machte zumindest einen besseren Kurs, statt
fünfzig, hundert Mark. Was da ablief? Nichts spannendes, echt nicht, keiner
schaffte es auch mich dabei zu befriedigen, vielleicht lag es auch nur daran,
daß ich es auch gar nicht wollte. Sascha hatte recht, was da geschieht hat mit
Gefühlen rein gar nichts zu tun. Du schaltest einfach ab, läßt mit Dir machen
oder machst, denkst nicht darüber nach. Außerdem, was lief da schon großartig.
Manche wollten gefickt werden, was ich machte. Damit zählte ich zu den wenigen,
die auch die Freier durchbumsten. Die meisten Stricher beschränkten sich auf
kleine Spielereien, Eier lecken, kraulen, dem Typen ein Blasen, keinesfalls
Küssen. Okay, küssen ließ ich mich auch nicht und nur mit größtem Widerwillen
schaffte ich es den ein oder anderen Freier tatsächlich einen kurzen, trockenen,
sporadischen Kuss zu geben. Auch wenn ich meist breit war, auf eines achtete
ich, alles mußte Safe bleiben. Kondom mein ewiger Begleiter und wehe einer
versuchte im Mund abzuspritzen. Leider kam auch das einmal vor. Bei einem
Freier, der noch recht jung, so um die dreißig war und gar nicht mal schlecht
aussah, paßte ich nicht auf, hielt die Eier nicht fest genug, um zu spüren, wann
der Samenkoller da durchrauschen will. Und eh ich mich versah, schoß das Zeug in
meinen Mund. Was habe ich dem die Fresse poliert, mit blutender Nase verließ er
den Laden. War sonst der Wirt darauf erpicht, daß die Stricher seine Gäste
anständig behandelten, stellte er hier keine Fragen, warum sein Gast mit
blutender Nase das „lef“ verlassen hat. Vielleicht lag es daran, daß die
anderen wußten, daß dieser Freier darauf stand, den Jungs Natursekt einzuflößen
und nur ich, Depp von Neuling, davon nichts wußte.
Immer mehr konnte ich Sascha verstehen, wenn ich Nachts, alleine in dem Bett der
Pension lag, wie Sascha sich gefühlt haben muß. Wie sehr ihn meine Ablehnung
geschmerzt haben muß, wenn ich aus Protest, daß er es mit Freiern trieb, das
gemeinsame Bett verließ und im Wohnzimmer schlief. Waren dies nicht die Momente,
wo Sascha nach einem ausgiebigem Duschbad, in welchem er den Dreck der Nacht
abwusch, das suchte, was er brauchte? Nähe, sich fallen lassen können, den
Körper dafür hergeben, wofür man ihn tatsächlich auch hergeben wollte, neben
jemanden liegen den man mochte um zu vergessen, was man mit sich hat anstellen
lassen? Wie gerne hätte ich in diesen Nächten, wo ich alleine, leer gepumpt,
schlaflos auf dem Bett der Pension lag, ihm das gesagt. Daß ich es nun
verstanden habe, daß ich, in solchen Nächten wo ich ihn ablehnte, eher
hätte zu ihm stehen sollen, ihm zeigen müssen, daß egal was er dort
getrieben hat, er für mich immer noch der ist, der er ist, mein Freund. Jetzt,
jetzt war es leider zu spät. Das
waren dann die Depriphasen die ich haßte, die ich wieder abtötete mit Koks oder
einigen gequalmten Tüten, bis ich gut benommen, mit trockenem, spröden Mund
endlich meinen unruhigen Schlaf fand.
Ich glaub ich hätte das noch einige Wochen weiter machen können, half es mir
doch, sowohl Sascha als auch Vater, zu vergessen.
In der ganzen Zeit verschwendete ich kaum einen weiteren Gedanken an meinen
Bruder. Daran, wie es ihm wohl jetzt gehen würde, was er jetzt ohne Vater macht.
Hätte ich darüber auch nur zwei Minuten stärker nachgedacht, hätte ich mir
eingestehen müssen, daß ich das größte selbstsüchtige Schwein bin, daß je gelebt
hat. Jetzt, wo mein Bruder jede Hilfe gebraucht hätte, ungeachtet dessen, was
wirklich im Arbeitszimmer vorgefallen war, verpisse ich mich, gebe mich den
Drogen und Sex hin, versuche zu vergessen ohne mich darauf zu besinnen, daß ich
auch so etwas wie Verantwortung zu übernehmen habe. Wenn schon nicht für mich,
dann zumindest für meinen Bruder. Doch solche Gedanken machte ich mir nur in den
Momenten, wo ich landete und ich verstand es verdammt gut, die Landebahn
möglichst kurz zu halten um schnellstmöglich wieder abzuheben.
Der Juli neigte sich so langsam seinem Ende zu. Ich hatte mal wieder ein Näschen
gezogen und ein zu befriedigender Tatendrang umgab mich. Deshalb faßte ich den
Entschluß, endlich das Leben, mein Leben, in den Griff zu bekommen. Dabei kam
mir eine Idee und ich fand, das war eine Klasse Idee, nämlich dahin zu fahren,
wo Sascha und ich unseren gemeinsamen Urlaub machen wollten, nach Lemmer in
Holland. Dort wollte ich endgültig von allem Abschied nehmen, unter alles einen
endgültigen Strich ziehen um danach neu gestaltend mein Leben zu übernehmen.
Klingt Klasse, was? Krankes Gehirn in weißen Schnee gehüllt, was denkst Du nur?
Egal! Ich glaube, daß es genau das ist, was Sascha auch gewollt hätte. Mit dem,
was ich zur Zeit trieb, strafte ich all das, was wir füreinander empfunden
hatten.
Wild entschlossen, stapfte ich rüber zum Bahnhof und ließ mir einen Reiseplan
von Hannover nach Lemmer ausdrucken. Der Fahrpreis bedeutete mindestens drei
Freier und dabei Verzicht auf Drogen. Jessus! Jetzt fange ich schon an in
Freiern und nicht in DM zu rechnen. Alter, das wird wirklich Zeit, daß Du
aufhörst. Wird schwer, aber ich werde es schaffen, ganz bestimmt. In Holland
müßte ich zwar weiter ein paar Nummern schieben, um mir wenigsten drei bis vier
Tage Erholung in Lemmer genehmigen und die Heimreise verdienen zu können. Wer
weiß, vielleicht lerne ich auch jemanden kennen, der mich wenigsten einen Teil
der Heimfahrtroute mitnimmt. Klingt alles toll, was man sich da so vornimmt,
gerade dann, wenn man drauf ist.
Die Vorsätze reichten gerade bis zum ersten Freier, der auch erst in den späten
Abendstunden kam. Bis dahin hatte ich schon gut ein paar Baccardi-Cola
intus. Was hatte ich Mühe den zu bequatschen, daß wir eine Nummer oben auf dem
Zimmern und nicht auf der Klappe machen. Faselte was von Gemütlichkeit und super
Lecken und Kraulen und was der Teufel alles. Was sollte ich mit fünfzig Mark?
Ich brauchte hundertfünfzig für die Hinfahrt, wenn ich den jetzt auf das Zimmer
kriege, bedeutete das nicht mehr drei, sondern nur noch einen Quickie auf der
Klappe. Endlich willigte er ein. Oben auf den Zimmern war es verdammt heiß,
schien doch den ganzen Nachmittag die Sonne durch die, mit Folie abgedunkelten,
Fenster. Zum Glück schaffte den
Freier selbst die Hitze, womit es bei einem kleinen, recht klebrigen,
verschwitzten Vorspiel und einer schnellen Blasnummer blieb. Nach dieser Nummer
mußte ich erst mal raus, an die frische Luft, war echt stickig in dem Laden und
ich brauchte ein Näschen. Wenigstens das eine Näschen noch, damit ich schnell
noch den einen Freier schaffe und vor allem wach bleibe, um den Nachtexpress
nach Amsterdam zu kriegen. Nur keiner aufzutreiben, der was dabei hatte. Und
jetzt noch los marschieren zum Steintor? Klar, im Rotlichtmilieu wo offen und
für jeden Bullen, der auch nur ansatzweise gewillt ist den Handel zu erkennen,
ersichtlich ist, dass hier nicht nur mit Fleischware sondern mit jedem Stoff
gehandelt wird. Zum Beispiel am Behindertenklo auf dem Marstall,
direkt am Steintor gelegen, geht es ganz einfach: zweimal klopfen, Preis
aushandeln und verschwinden. Die Bullen? Fahren vorbei und schauen diskret weg.
Ist halt einfacher Falschparkknöllchen zu verteilen als kleine Drogenkuriere
hoch zu nehmen. Und Behinderte, die
tatsächlich nur eine Notdurft verrichten wollen? Müssen halt Junkies werden,
dann können Sie. Mann, ist die kaputt diese Welt. Oder bin es nur ich?
Nein, jetzt hoch zum Marstall, das wird zeitlich zu eng. Also blieb es
bei einer Tüte, denn Peace hatte ich ja noch, die ich draußen auf der
Bank rauchte.
Mir war mal wieder zum Heulen. Gleich zweiundzwanzig Uhr und erst ein Freier.
Verdammt! Ich will doch den Nachtexpreß nehmen, und der geht genau in einer
Stunde. Scheiße, wenn man diese sexhungrigen Alten Affen braucht, dann sind sie
nicht da und genau in den Momenten, wo man keinen Bock hat oder einfach schon zu
viele Nummer geschoben hat, ja dann, dann kleben die einem an der Hosennaht. Mit
mir und dem Schicksal hadernd saß ich auf der Bank und schaute in den klaren
Nachthimmel. Es versprach wieder eine schwüle Nacht zu werden. Hoffentlich hat
der Zug eine Klimaanlage.
Rund um den Brunnen war echt viel los. Überall saßen welche, nutzten die laue,
aber trotzdem erfrischende Abendbrise, schlürften Cola, Bier oder gar einen
leckeren Wein, den sie an dem in der Nähe gelegenen Kiosk erstanden hatten. Es
waren meist jüngere, so in meinem Alter. Auch ein paar Skater drehten ihren
Runden. Was bekam ich eine Lust, mich selber wieder auf das Board zu schwingen
und wie in Urft ein paar Figuren zu ziehen. Was aber hier fehlte, waren
zahlungswillige Freier. Schon seit geraumer Zeit viel mir ein jüngerer Typ auf,
der den Brunnen so umrundete, daß er all die, die so in seinem oder meinen Alter
waren genauer musterte. Er sah, so weit ich das von meiner Bank aus beurteilen
konnte, verdammt gut aus. Keine schlechte Figur, die er da zur Schau stellte,
breites Kreuz, dunkelblondes leicht gewelltes Haar, gut einen halben Kopf
kleiner als ich. Wohl ein neuer, der sein Glück als Stricher versucht, schoß es
mir durch den Kopf. Quatsch, dann würde der nach Älteren sich umschauen und
nicht in seiner Alterskategorie suchen. Wer weiß? Vielleicht einer, der sein
Schwulsein erst mit einem Stricher austesten möchte. Da dies für mich kein Kunde
war, beachtete ich ihn nicht weiter, sondern schaute wieder rauf zu den Sternen,
dachte an Urft, an meine erste Nacht mit Darius, unserer Ausreißaktion zum Moped
im Steinbruch. Was er wohl jetzt machen wird? Ob er noch hin und wieder an mich
denkt?
Jemand setzte sich neben
mich auf die Bank. Ein Kunde! Vielleicht schaffe ich es ja doch noch, einen
Freier im Schnellverfahren und nichts wie ab in den Nachtexpress. Doch der, der
da neben mir sitzt, ist der Typ, den ich schon eben um den Brunnen hab
schleichen sehen, hervorstehende Wangenknochen, schmale Lippen, ernster, durch
wunderschöne blaue Augen schauender, Blick. Ach Du dickes Ei! Wenn das nicht
mein Bruder wäre, hätte das endlich mal wieder eine Nummer werden können, wo
mehr als nur Dienstbarkeit gespielt wird. Mein Bruder! Scheiße, was triebt der
denn hier? Und, der raucht! Seit wann raucht der?
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